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Die Frau meines Vaters - Erinnerungen an Ulrike Röhl, Anja

Autor: Röhl, Anja
ISPN: 9783894017712 (früher: 3894017716)
Einband: Hardcover
Verlag: Edition Nautilus 2013

Rezension

Anja Röhl, Die Frau meines Vaters. Erinnerungen an Ulrike

Die Autorin beschreibt die ersten Jahrzehnte nach dem Zweiten Weltkrieg aus der Perspektive eines Kindes, eines Mädchens und einer jungen Frau. Obwohl es sich um subjektive Erfahrungen handelt, schildert sie – aus einer gewissen Distanz – sehr eindrücklich die Geisteshaltung dieser Zeit, in der es vor allem darum ging, zu überleben und einen Platz bzw. Anerkennung und emotionale Zuwendung in der Gesellschaft zu finden. Es bleibt keine Zeit zum Nachdenken, geschweige denn, zur Verarbeitung von Kriegserlebnissen, zur Trauer um Verstorbene oder über nie in Erfüllung gegangene Wünsche. Viele Frauen stehen mit ihren Kindern allein da: Entweder werden die Ehen geschieden oder die Männer sind aus dem Krieg nicht zurückgekehrt. Das wäre aus heutiger Sicht nicht so tragisch, aber es darf nicht vergessen werden, dass die Frau erst 1957 im Bürgerlichen Gesetzbuch für gleichberechtigt erklärt wurde. Diese offiziell erklärte Gleichberechtigung bedeutete jedoch noch nicht, dass eine alleinstehende Frau gesellschaftlich auch anerkannt wurde, denn ihre Handlungsfreiheit war trotz allem stark eingeschränkt. Um als alleinstehende Mutter gesellschaftlich toleriert zu werden, musste sie von Männern aufgestellten Kriterien entsprechen, d.h. deren Vorstellungen einer körperlich perfekten Frau erfüllen, eine ordentliche Hausfrau sein, dem (Ehe-) Mann gehorchen, die Kinder im Griff haben etc. In der Hoffnung auf „ein kleines bisschen Glück" musste die Frau also eine Rolle spielen.

Dieses Rollenspiel bringt die Autorin darin zum Ausdruck, dass sie von „dem Kind", von „der Mutter" und von „dem Vater" spricht, sich weder mit ihnen identifiziert, noch ihnen Namen gibt. Die geschilderten Verhaltensweisen sind somit nicht zufällig und beschränken sich nicht auf ein einzelnes Individuum, sondern entsprechen derzeit allgemein anerkannten gültigen Regeln. Sie kennzeichnen das Schicksal einer ganzen Generation. Auch die dadurch verursachten emotionalen Verletzungen sind gesellschaftliches Allgemeingut, wenn es beispielsweise lapidar heißt: „Kind sein heißt allein sein." Diese wenigen Worte lassen ein vollständiges Gesellschaftsbild vor dem Auge des Lesers entstehen: Schlüsselkind, überarbeitete Eltern, autoritäre Lehrer, fehlende Kommunikation etc. Die Kindheit ist durch Aufenthalte in Ferienheimen und Internaten geprägt, deren Erziehungsmethoden sich nicht von denen unterscheiden, die heute von den sog. ehemaligen Heimkindern angeprangert werden.

Das „Kind" wird zum immer noch namenlosen „Mädchen", bis es in „der Frau seines Vaters" einen Menschen findet, der ihm zuhört, ihm Fragen stellt und es ernst nimmt. Diese Frau hat jetzt einen Namen: Ulrike (Meinhof). Von nun an findet eine Kommunikation zwischen zwei Individuen, zwischen Ulrike und (dem Mädchen) Anja, statt. Ulrike unterscheidet sich insofern von den anderen Personen, als sie keine Rolle spielt: Sie nimmt die Bedürfnisse anderer wahr, geht auf sie ein, hinterfragt, erklärt und versucht, ihnen zu helfen. Auch „das Mädchen" Anja beginnt jetzt, ihre Rolle zu hinterfragen. Es gelingt ihr jedoch trotz allem nicht, sich aus den gesellschaftlichen Zwängen zu befreien. Sie bleibt als abhängige Minderjährige weiterhin den Anordnungen der Erwachsenen ausgeliefert. Ulrike wird jedoch nicht als „Heldin" idealisiert, sondern ist (ebenso wie Erich Fried) eine der aufrichtigen Personen, die „das Mädchen" ernst nehmen.

Als „die junge Frau" muss auch Anja – ebenso wie ihre Mutter – um ihr Überleben kämpfen. Die Autorin hat den gesellschaftlichen Druck der damaligen Zeit sehr einfühlsam geschildert. Anja sieht sich gezwungen, einen für Frauen geeigneten Beruf zu erlernen. Sie macht eine Ausbildung als Krankenschwester (wie es sich für eine Frau gehört!!!). Während ihrer Lehrzeit wird sie – ebenso wie die anderen Auszubildenden – als „Mädchen für alles" beleidigt und erniedrigt. Anja hat gar keine Zeit, sich um gesellschaftspolitische Probleme zu kümmern, zumal es sehr schwierig ist, eine Arbeit zu finden. So kann sie Ulrike auch kaum noch im Gefängnis besuchen.

Es ist sehr mutig von der Autorin Anja Röhl, diese Nachkriegsjahre so sachlich zu schildern. Sie verurteilt niemanden, sondern ordnet die Handlungen und Gefühle ihrer Protagonisten in einen Gesamtkontext ein, der von autoritären Familien- und Gesellschaftsstrukturen dominiert war. So rückt sie die Bedeutung der 1968-Bewegung wieder ins rechte Licht, die heutzutage entweder verteufelt oder geheiligt wird. Es sollte nicht vergessen werden, dass noch in den siebziger Jahren Menschen verhaftet wurden, „weil sie zwei Frauen- und nur einen Männernamen an der Tür stehen hatten. Die Bürger sollen wachsam sein, steht in der Zeitung, überall. Und da, wo sich junge Leute in Wohngemeinschaften sammeln, soll aufgepasst werden." Homosexualität wurde – ebenso wie Schwangerschaftsunterbrechung – lange als Straftat verfolgt. Politische Panikmache vor anderen Lebensarten („Ausländer raus!") ist ja heute nach gesellschaftsfähig, auch wenn nicht öffentlich darüber gesprochen werden darf.

Das Buch ist sowohl inhaltlich als auch sprachlich ein aktueller Beitrag zur Vergangenheitsbewältigung und nicht nur für die „1968er" lesenswert, gerade weil dieser gesellschaftliche Druck und die damit einhergehenden moralischen Vorstellungen heutzutage nur noch schwer vorstellbar sind.


Helmtrud Rumpf


















In ihren Kindheits- und Jugenderinnerungen zeichnet Anja Röhl ein Porträt der autoritären und lebensfeindlichen Gesellschaft der 1950er und 60er Jahre in Deutschland. Als Kind geschiedener Eltern ist sie einsam und unsicher. Erst die moderne, antiautoritäre zweite Frau ihres Vaters, zu dem sie an den "Papi-Tagen" geht, bringt ihr Verständnis, Zuwendung und Zutrauen entgegen: Es ist Ulrike Meinhof.



Leseprobe:
So was hat es noch nie erlebt, dass eine so spricht. Ulrike, denkt das Kind, was die für Sachen sagt!
Nach einem Papi-Tag steigt das Mädchen aus dem Auto ihres Vaters. Da hält er sie noch mal zurück: "Übrigens, Anja! Ulrike und ich werden uns trennen."
Das Mädchen starrt den Vater an. Der sagt, scheinbar lustig: "Alles hat ein Ende, nur die Wurst hat zwei." Das Mädchen versteht nicht. Was passiert nun mit den Kindern? Und Ulrike? Ich werde sie nie wiedersehen, denkt das Mädchen, während sie auf die Blinklichter des Armaturenbretts starrt
Später besucht sie den Vater in dem Haus in Blankenese, das nun fast leer ist. Die Teppiche sind weg, man sieht den Holzfußboden. Der Vater grölt im Keller und trinkt und schießt mit dem Kleinkalibergewehr, endlich dürfe er das, das sei doch erfreulich, sagt er. Er prostet anderen Männern, Freunden aus seiner Firma, mit Whisky zu. Es ist laut. Das Mädchen hört den Lärm bis in die kahlen und verlassenen Zimmer.
Einzig im Arbeitszimmer des Vaters stehen noch alle Möbel, dort liegen all die Mädchenbilder für seine Zeitung herum, die sie immer schon ansehen musste. Nun hasst sie das alles noch viel mehr. Ihr Vater ist daran schuld, er hat ihr das Liebste genommen, was sie hatte: für eine kurze Zeit die Illusion einer Familie.
Eine Familie, die ein wenig, nur durch die Bande des gemeinsamen Vaters, mit ihr verbunden war. Hier hatte sie sich eingebracht und war nützlich gewesen, hier war sie wiedergeliebt worden. Sie hatte in Ulrike einen Menschen kennengelernt, der sie verstanden hatte, wie sich das Mädchen nie zuvor von jemandem verstanden gefühlt hatte.
18,00 EUR


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